Cover
Titel
Die vergessenen Säuglingsheime. Zur Geschichte der Fürsorge in Ost- und Westdeutschland


Autor(en)
Berth, Felix
Reihe
Forum Psychosozial
Erschienen
Anzahl Seiten
185 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Kaminsky, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Ein spannendes Thema, das auf ein unerwartetes Interesse stieß – so leitet Felix Berth, Historiker, Erziehungswissenschaftler und Supervisor, der lange als Journalist gearbeitet hat, sein Buch ein. Der Ausgangspunkt waren persönliche Erlebnisse mit Menschen, die sich in Gesprächen offenbarten, nicht nur in einem Heim gewesen zu sein, sondern gerade auch in einem Säuglingsheim. So finden sich in dem Werk auch vier lebensgeschichtliche Interviews mit Betroffenen der Säuglingsheimerziehung und drei Interviews mit früheren Erziehenden (Teil II: „Die Sicht der Betroffenen“). Gerade die Interviews geben mehr Auskunft über die spätere Verarbeitung der damaligen Erfahrungen und über das nachträgliche Wissen im Hinblick auf den Heimaufenthalt als über diesen selbst, zumal eigene Erinnerungen an das Säuglingsalter kaum möglich sind. Die Gespräche dienten Berth als Impulse für seine Recherchen.

Das Buch hat einen etwas unorthodoxen, nicht chronologischen Aufbau; es folgt einer eher journalistisch zu nennenden Darstellungsform. Die Unterkapitel haben neben einer knappen Hauptüberschrift eine beschreibende Unterüberschrift. Das hilft dabei, einen Überblick zu gewinnen. Der Autor bietet eingangs sogar mögliche „Leserichtungen“ (S. 15) für sein Buch an. Dieses besteht aus drei Hauptteilen: einer „Sozialgeschichte des Säuglingsheims“ (Teil I), der erwähnten retrospektiven Sicht von ehemaligen Säuglingsheimkindern und Erziehenden auf ihre Erfahrungen (Teil II) sowie einer „Wissensgeschichte des Säuglingsheims“ (Teil III), die von den Diskursen über Kleinkinderziehung im 20. Jahrhundert handelt. So werden die Interviews historiographisch und analytisch gerahmt. Zentral ist dabei ebenso der Zugang, die beiden deutschen Staaten im Vergleich zu betrachten.

Im ersten Teil werden Zahlen für die bis in die 1960er-Jahre in West wie Ost verbreiteten Säuglingsheime dargeboten. Es soll sich um rund eine Million Betroffene handeln, vielleicht aber auch um fast zwei Millionen, je nachdem, ob man mit einer durchschnittlichen Heim-Verweildauer von vier oder sechs Monaten rechnet (S. 29). Hier wird aber auch die Grenze einer statistischen Abschätzung deutlich. Die sogenannte „Inanspruchnahmequote“ bei vermuteten zwei Kindern jährlich pro Platz läge seit Mitte der 1950er-Jahre in der DDR sehr viel höher als in der Bundesrepublik (für 1960 bei 2,7 Prozent aller Säuglinge in der DDR und 1,3 Prozent in der Bundesrepublik; S. 27). Zu diesem Zeitpunkt bestanden mehr als 400 Säuglingsheime im westdeutschen und mehr als 200 im ostdeutschen Staat. In der DDR existierten zudem Wochenkrippen, in denen meist berufstätige Mütter montags ihre Kinder abgaben und sie freitags wieder abholten. Die Hintergründe für eine Aufnahme in Heime lagen in beiden deutschen Staaten überwiegend in sozialer Randständigkeit der Eltern, Alkoholismus, Alleinerziehung durch Mütter oder einem Status als Waise oder Halbwaise, was in der DDR als „familiengelöst“ (S. 42) bezeichnet wurde.

Eine Beobachtung, die Berth umtreibt, ist die Tatsache, dass die Säuglingskinderheime in Westdeutschland seit den 1960er-Jahren rasch abgebaut wurden und deren Platzzahl von gut 18.000 (1960) auf rund 3.000 (1975) und bis 1989 auf 377 sank, wohingegen die Heime in der DDR bis zu deren Ende weiterexistierten, wenn auch auf einem geringeren Niveau als zuvor (fast 11.000 Plätze im Jahr 1960, gut 5.000 Plätze im Jahr 1989). Wie kam es zum jeweiligen Wandel? Der Autor sucht Antworten sowohl auf der Ebene der Gesellschaftsgeschichte (Teil I) wie auch auf der Ebene der Wissensgeschichte (Teil III).

Gesellschaftsgeschichtlich ist es besonders die Institutionengläubigkeit des SED-Staates, die Berth herausstellt. Die politisch gewollte und wirtschaftlich wie emanzipativ legitimierte hohe Erwerbsquote von Frauen beförderte eine Idealisierung von Säuglingsheimen als vermeintlich guten Orten der Versorgung und des Aufwachsens. Dies wurde durch den politischen Einschnitt und die Selbstisolation der DDR nach dem Mauerbau 1961 noch verstärkt. Die in der Bundesrepublik durchaus wahrgenommene psychoanalytisch inspirierte Bindungstheorie von Autoren wie John Bowlby, René A. Spitz und Anna Freud, die Heime insgesamt als nicht geeignete, schädliche Orte für das Aufwachsen von Säuglingen und Kleinkindern benannte, fand in der DDR keine breite Rezeption. Berth verweist selbst auf die Schwierigkeiten der Ursachenzuschreibung, fehlten doch gerade seit den 1960er-Jahren fachwissenschaftliche Beiträge zum Thema. Insbesondere die Frage sozialer Hintergründe für die Abgabe von Kindern alleinerziehender Mütter in Heime wurde zwar in der Bundesrepublik gestellt, aber in der DDR angesichts des Ideals der klassenlosen Gesellschaft ausgeblendet.

Trotz der Unterschiede in der Kleinkinderpädagogik, die Berth aufgrund der verschiedenen politischen Systeme der beiden deutschen Staaten ausmachen kann, verweist er auch auf die gemeinsamen Voraussetzungen, die unter anderem in der NS-Zeit lagen, wobei er Johanna Haarers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ hervorhebt (S. 169). Erstmals 1934 erschienen, verherrlichte dieser Bestseller die emotionale Abhärtung von Müttern, die zum Beispiel nur in einem regelmäßigen Vierstundenrhythmus stillen sollten, und forderte eine autoritäre Drillpädagogik. Der populäre Ratgeber erlebte in der Bundesrepublik ähnlich viel Absatz wie in der NS-Zeit – nun unter dem scheinbar ideologiefreien Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ mit zahlreichen Neuauflagen bis 1987.

Dass es womöglich auch „gute“ Heime gab, in denen sich enge Beziehungen zwischen Betreuenden und Säuglingen entwickelten und neben einer angemessenen physischen Versorgung auch emotionale und psychische Stabilität für die Kinder die Folge sein konnten, stellt laut Berth ebenfalls einen Merkposten dar, der besonders von der Erfahrung eines Interviewpartners untermauert wird. Dies stellte allerdings die Ausnahme dar in den vom Autor sonst wiedergegebenen Befunden über die durchgängige Schädlichkeit der frühkindlichen Erziehung in Heimen, die er mit Verweis auf die Untersuchungen von Annemarie Dührssen in Westdeutschland und von Eva Schmidt-Kolmer in Ostdeutschland aus den späten 1950er-Jahren hervorhebt.

Felix Berth beantwortet die selbst gestellten Fragen durchaus souverän und gut lesbar. Die Belegstruktur ist als beschreibend und eher grob zu kennzeichnen. Das hat den Vorteil, dass im Fließtext die Schwierigkeiten der statistischen Erfassung deutlich werden, während der genaue Nachvollzug von Belegen im Einzelfall aber kompliziert bis unmöglich ist. Am Ende der Unterkapitel wird die benutzte Literatur jeweils in Form einer Liste angeführt. Das Werk stellt insofern eher ein informierendes Sachbuch dar. Manche Verallgemeinerungen im Text entsprechen zwar der Generalthese zum negativen Effekt von Heimen für das Aufwachsen von Säuglingen, doch lassen sie Differenzierungen vermissen. Die Frage der konfessionellen Prägungen und ihrer Folgen für die Kinder, die im Bereich der westdeutschen Heimerziehung eine wichtige Rolle spielten1, behandelt der Autor nicht. Das Buch stellt gleichwohl ein Pionierwerk zu Säuglingsheimen dar, dessen differenzierende Vertiefung allerdings noch aussteht.

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu Wilhelm Damberg / Bernhard Frings / Traugott Jähnichen / Uwe Kaminsky (Hrsg.), Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster 2010; Bernhard Frings / Uwe Kaminsky, Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975, Münster 2012.